Die internationale Grenze im Genfersee: wenig sichtbar, aber klar vorhanden

von Olivier Cavaleri, Historiker
Version vom 20. April 2025

Bis Anfang des 16. Jahrhunderts ist der Genfersee nahezu vollständig in das Herzogtum Savoyen integriert. Im Jahr 1536 verändern die Eroberungen von Bern im Waadtland und der Walliser im Chablais die Lage grundlegend. Diese Eroberungen, die durch die Verträge von Lausanne 1564 und Thonon 1569 offiziell anerkannt werden, ziehen eine lange internationale Grenze durch den See. Mit dem Beitritt der Kantone Genf und Wallis zur Eidgenossenschaft im Jahr 1815 und dem Anschluss Savoyens an Frankreich im Jahr 1860 wird der Genfersee zu einem französisch-schweizerischen Raum. Da die Anerkennung einer Seegrenze, die definitionsgemäss nicht materiell ist, nicht so einfach ist wie die einer natürlichen oder markierten Landgrenze, werden wir die Etappen ihrer Entstehung näher betrachten.

Im Jahr 1536 besetzt Bern das Waadtland, das Genfer Umland und den südlichen Teil des Sees bis Thonon. Die Walliser ihrerseits marschieren ins Chablais ein und erreichen ebenfalls Thonon. Der See wird somit „schweizerisch“, insofern als seine Ufer von Bern und zwei mit der Eidgenossenschaft verbündeten Ländern (Wallis und Genf) kontrolliert werden. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bemüht sich der Herzog von Savoyen mit Unterstützung Spaniens darum, seine Besitzungen in Savoyen ganz oder teilweise zurückzugewinnen. Mit Bern wird dies im Vertrag von Lausanne 1564 geregelt: Bern behält das Waadtland, zieht sich jedoch vom Südufer des Sees und vom Genfer Umland zurück. Das Wallis zieht sich bis nach St-Gingolph zurück, behält aber das heute als Walliser Chablais bekannte Gebiet.

Artikel 20 des Lausanner Vertrags von 1564 legt fest, dass die Mitte des Sees als Grenze zwischen Bern und Savoyen dienen soll. Seither wird diese Grenze auf Landkarten vermerkt, etwa auf der Karte von Thomas Schöpf aus dem Jahr 1578. Die Nutzung der Seemitte als Grenze wird 1815 erneut bestätigt, als der neue Kanton Genf savoyische und französische Gebiete erhält, um sein Territorium zu vereinheitlichen und mit der Schweiz zu verbinden. Der Vertrag von Turin vom 16. März 1816 zwischen dem Königreich Sardinien und Genf bestätigt, dass die Grenze zwischen den benachbarten Souveränitäten „in der Mitte der Breite“ des Sees verläuft.

Karte von 1578 von Thomas Schöpf. Die Mitte des Sees bildet die Grenze zu Savoyen [UB Bern]
Karte von 1578 von Thomas Schöpf. Die Mitte des Sees bildet die Grenze zu Savoyen [UB Bern]

Der Anschluss Savoyens an Frankreich im Jahr 1860 verändert die Lage zunächst nicht. Erst im 20. Jahrhundert beginnen die Schweizer und französischen Behörden, die Grenzziehung zu vereinfachen. Denn die Vorstellung einer Seemitte ist im alltäglichen Sprachgebrauch zwar verständlich, lässt sich jedoch im Gewässerraum praktisch schwer umsetzen. Abgesehen von der Unmöglichkeit, dauerhafte physische Markierungen im Wasser zu setzen, erfordert die Bestimmung einer mittleren Grenzlinie zahlreiche Messungen.

Das Abkommen zwischen der Schweiz und Frankreich über die Festlegung der Grenze im Genfersee vom 25. Februar 1953 bildet die Grundlage der heutigen Grenzziehung. Es basiert auf der theoretischen Mittellinie, die durch „die Mittelpunkte der Kreise, die zwischen den Ufern der Schweiz und Frankreich eingeschrieben sind“, bestimmt wird. Zur Vereinfachung wird sie jedoch durch „eine sechseckige Polygonlinie, die die Flächen ausgleicht“ ersetzt. Zwei Querlinien bei Hermance und St-Gingolph ergänzen die Grenzziehung. Anhand der Koordinaten von sieben Punkten lässt sich die internationale Grenze damit leicht festlegen. Heute kann dank der Geolokalisierung auf einer Karte des Bundesamts für Landestopografie (Swisstopo) jeder die internationale Grenze mit dem Boot nachverfolgen. Die Grenze zwischen dem Wallis und dem Kanton Waadt stösst in gerader Linie vom Zentrum der Rhône auf den französisch-schweizerischen Punkt vor Saint-Gingolph. Dasselbe gilt für die Grenze zwischen dem Waadtland und Genf vor Hermance.

Abkommen von 1953. Berechnung des ersten der sieben Punkte zwischen Coppet und Hermance [AFS K1#3226]
Abkommen von 1953. Berechnung des ersten der sieben Punkte zwischen Coppet und Hermance [AFS K1#3226]
Sechseckige Grenzlinie gemäss dem Abkommen von 1953 [BBl 1953 III 71]
Sechseckige Grenzlinie gemäss dem Abkommen von 1953 [BBl 1953 III 71]

Quellen

  • Vertrag von Lausanne vom 30. Oktober 1564 [AEB Fach Savoyen]
  • Karten von Thomas Schöpf aus dem Jahr 1578 [UB Bern, MUE Ryh 3211: 8]
  • Vertrag von Turin vom 16. März 1816 [AEG Savoie 37]
  • Abkommen zwischen der Schweiz und Frankreich über die Festlegung der Grenze im Genfersee vom 25. Februar 1953 [AFS K1#3226]
  • Beschluss der Bundesversammlung vom 23. Dezember 1953 [BBl 1953 III 71]